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“Deutschland ohne Geld geht gar nicht”

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Die Hälfte alle Kinder in Deutschland hat laut einer Studie Angst vor Armut – berechtigterweise, sagt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwege.

Jedes zweite Kind in Deutschland hat Angst vor Armut.

Jedes zweite Kind in Deutschland hat Angst vor Armut: Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Der Anteil der Acht- bis Vierzehnjährigen, die sich immer, oft oder manchmal Sorgen über die finanzielle Lage ihrer Familie machen, liegt demnach bei über 50 Prozent. „Deutschland ohne Geld geht gar nicht“, wird ein Jugendlicher zitiert, der für die Studie befragt wurde.

„Für Kinder und Jugendliche ist die Absicherung finanzieller Bedarfe ein wichtiges Thema“, resümiert die Studie, an der 3450 Acht- bis Vierzehnjährige teilnahmen. Kinder und Jugendliche könnten sich sehr gut zur Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen, zu Mangel und Absicherung äußern, seien also auch bei diesen vermeintlichen Erwachsenenthemen „Experten“ ihrer eigenen Lage, erklärt die Jugendforscherin Sabine Andresen (Uni Frankfurt), die die Studie durchführte. „Wissenschaft und Politik sollten sie zu ihren Rechten, Interessen und Bedarfen systematisch und regelmäßig anhören.“

“Kinder sind Seismografen der sozialen Spaltung”

Auf den ersten Blick geht es den meisten der befragten Kinder gut. Für mehr als 96 Prozent gilt laut der Umfrage: Es gibt genug zu essen, Platz zum Spielen, in den Wohnungen mindestens ein Badezimmer und mindestens einen Computer in der Familie. Einen ungestörten Arbeitsplatz dagegen hätten nur neun von zehn Kindern, ein eigenes Schlafzimmer nur acht von zehn. 88 Prozent waren schon mindestens einmal auf Familienurlaub. Der Anteil der Gymnasiasten, die mit ihren Eltern Urlaubreisen machen und die ein eigenes Zimmer haben, ist gegenüber Haupt- und Realschülern, Sekundarschülern und Gesamtschülern überproportional hoch.

Warum treibt so viele die Angst vor Armut um – und das in einem wohlhabenden Land wie Deutschland? Diese Sorgen überraschen den Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge (Uni Köln) nicht. Die Umfrage spiegele wider, dass in Deutschland Arm und Reich immer weiter auseinanderdriften, sagte Butterwegge auf Anfrage: „Darüber machen sich Kinder zunehmend Gedanken. Sie sind gewissermaßen Seismographen der sozialen Spaltung.“ Auch andere Studien zeigten, dass Kinder und Jugendliche auf solche gesellschaftlichen Umbrüche besonders sensibel reagieren.

2,8 Millionen Kinder leben in Armut

Nicht zuletzt seien auch viel mehr von Armut betroffen, als öffentlich bekannt ist. Laut EU-Kriterien leben in Deutschland im Jahr 2017 etwa 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. „Das ist mehr als jedes fünfte, in den großen Städten sogar jedes vierte Kind“, sagt Butterwegge. Als „arm“ gilt laut EU-Kriterien, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erhält. Besonders Alleinerziehende seien betroffen.

Zwar tun Eltern oft alles, um ihren Kindern den Eindruck von Armut zu ersparen – das zeigen auch die Ergebnisse der neuen Studie. Die Mehrheit aller Eltern versucht demnach, ihren Kindern Güter zu ermöglichen, die zu einer „durchschnittlichen“ oder „normalen“ Kindheit gehören, heißt es – auch wenn die finanziellen Ressourcen der Familie wenig Spielraum ermöglichen.

Kinder würden es dennoch spüren, wenn Geld immer wieder Thema in der Familie sei, die Eltern womöglich darüber streiten, sagt Butterwegge. In erster Linie gehe es um relative Armut. Kinder würden also nicht gleich befürchten, demnächst unter der Brücke schlafen zu müssen. Aber schon die Sorge, mit anderen Jugendlichen nicht mithalten zu können, die modernste Unterhaltungselektronik und angesagte Markenkleidung finanziert bekommen, sei für viele belastend. Laut der Studie sorgen sich viele Kinder insbesondere dann, wenn sich die Familie kein Auto und keinen Urlaub leisten kann.

Erwachsene Vertrauenspersonen – wichtig fürs Aufwachsen

Sicherheit, Zeit mit Eltern und Freunden, erwachsene Vertrauenspersonen – auch das zählt aus Sicht der großen Mehrheit der Kinder und Jugendlichen zum guten Aufwachsen. Als belastend wird Ausgrenzung empfunden. Jedes dritte Kind an einer Haupt-, Gesamt- oder Sekundarschule fühlt sich dort nicht sicher. Fünf Prozent der Achtjährigen und zehn Prozent der Vierzehnjährigen geben an, dass sich niemand in der Familie wirklich um sie kümmere. Je älter die Schüler sind, desto weniger haben sie den Eindruck, dass Lehrkräfte ihnen bei Problemen helfen. Zudem geben 50 bis 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, nicht oder nicht sicher über ihre Rechte Bescheid zu wissen.

Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, bekräftigte seine Forderung, alle staatlichen Leistungen für Kinder in einem „Teilhabegeld“ zu bündeln. Dafür brauche es eine neue Art der Sozialberichterstattung, die Kinder und Jugendliche direkt zu ihren Bedarfen und Interessen befragt. Christoph Butterwegge forderte die Politik auf, insgesamt mehr die Ursachen von Kinderarmut anzugehen. Der durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes im vergangenen Jahrzehnt immer größer werdende Niedriglohnsektor sei das „Haupteinfallstor“ auch für prekäre Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen.

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