Wissen und Technik

“Akademiker für den Frieden” bitten um Hilfe

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Geflüchtete Forscher aus der Türkei sind zunehmend verzweifelt: Die Situation in der Heimat verschärft sich weiter, Perspektiven in Deutschland haben sie kaum.

Protest türkischer “Akademiker für den Frieden” auf dem Bebelplatz vor der Humboldt-Universität.

Einen „Aufruf zu dringlichem Handeln“ haben türkische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am Dienstagvormittag auf dem Bebelplatz vor der Humboldt-Universität verlesen. Etwa 30 waren gekommen, um anlässlich der Verurteilung der bekannten Politikwissenschaftlerin Füsun Üstel zu 15 Monaten Haft auf die anhaltende Verfolgung von Unterzeichnern eines Friedensaufrufs für die Kurdengebiete vom Januar 2016 aufmerksam zu machen.

Füsun Üstül, die bis zu ihrer Emeritierung an der Galatasaray-Universität in Istanbul lehrte, war eine von rund 2200 Unterzeichnenden des Aufrufs der „Academics for Peace“. Nach dem Putschversuch gegen das Erdogan-Regime im Juli 2016 begannen die Verhöre, Entlassungen und Inhaftierungen der Professorinnen und Dozenten.

Stelle an der Uni, Pensionsansprüche und den Pass verloren

Bis heute seien 535 Unterzeichner betroffen, heißt es in dem aktuellen Aufruf der Gruppe „Akademiker für den Frieden Deutschland“, die von geflohenen und exilierten Wissenschaftlern gegründet wurde. Vielen der Entlassenen und zwischenzeitlich Verhafteten ist allerdings der Weg ins Ausland versperrt. Sie haben häufig nicht nur ihre Lebensstellungen an staatlichen Unis und ihre Pensionsansprüche verloren, sondern der türkische Staat hat auch ihre Pässe eingezogen.

Mit der Inhaftierung von Professorin Üstel habe die Verfolgung „eine neue Qualität erreicht“, heißt es. Seit dem 5. Dezember 2017 seien 652 der Unterzeichnenden wegen „Verbreitung von Propaganda für eine terroristische Organisation“ angeklagt und 137 von ihnen für „schuldig“ befunden worden – in „unfair geführten“ Verfahren, wie die Academics for Peace betonen. Die Verurteilungen zu 15 bis 36 Monaten seien in 108 Fällen zur Bewährung ausgesetzt worden. 28 mussten ihre Haft aber antreten. Das stehe jetzt auch Füsun Üstel unmittelbar bevor, nachdem der regionale Gerichtshof Istanbuls eine Revision gegen das Urteil und das 15-monatige Strafmaß abgelehnt habe.

Überrascht, wie hart der Wettbewerb in Deutschland ist

Die Initiative ruft „die internationale Gemeinschaft auf, schnell in Solidarität mit den Akademikern für den Frieden zu handeln“. Die Academics for Peace appellieren insbesondere Kolleginnen und Kollegen aus der scientific community, an Abgeordnete deutscher und europäischer Parlamente sowie an Menschenrechtsorganisationen zu schreiben und sich für Üstel und andere Verfolgte einzusetzen (zum Aufruf geht es hier).

Unter den 30 Protestierenden auf dem Bebelplatz wird die Solidarität hoch geschätzt, die Deutschland ihnen mit der Phillpp-Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung oder etwa mit dem Berliner Programm für geflüchtete Forschende entgegenbringt. Doch zunehmend macht sich auch Verzweiflung breit.

„Viele von uns sind überrascht, wie hart der Wettbewerb um Stellen ist“, sagt Mustafer Sener, Politikwissenschaftler aus Mersin, der als Philipp-Schwartz-Stipendiat für zwei Jahre an der Universität Bamberg untergekommen ist. Stipendien oder bestenfalls kurzeitige Verträge böten den Exilierten „keinerlei Sicherheit oder realistische Perspektive in Deutschland“, sagt Sener. Viele derjenigen, die aus der Türkei ausreisen konnten, hätten inzwischen ihre Pässe verloren, weil diese nach Ablauf der Gültigkeitsdauer nicht mehr von den Botschaften und Konsulaten der Türkei verlängert würden.

Offizielle Solidaritätsbekundungen

„Die deutsche Wissenschaft ist apolitisch und hat unsere Situation nicht verstanden“, beklagt Sener. Er ist als Teilnehmer der „Konferenz zur Freiheit der Wissenschaft“ in Berlin, zu der die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) eingeladen hat. 300 geflohene Forschende und internationale Experten diskutieren unter anderem über die „Unterstützung der Karriereentwicklung von gefährdeten Forschern“. Deutschland und Frankreich haben im Rahmen der Konferenz eine gemeinsame Erklärung zur Wissenschaftsfreiheit abgegeben, mit der sie Wissenschaftsorganisationen aufrufen, noch mehr für die Verfolgten aus allen Teilen der Welt zu tun. Die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen startet in diesen Tagen eine Veranstaltungsreihe „Gemeinsam für die Freiheit der Wissenschaft“ – Anlass ist der 70. Geburtstag des Grundgesetzes.

Doch praktisch passiere zu wenig, um verfolgten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zumindest eine mittelfristige berufliche Perspektiven in Deutschland zu geben, ist auf dem Bebelplatz zu hören. Und dem Aufruf an die Teilnehmenden AvH-Konferenz, sich der Kundgebung am Dienstagmorgen anzuschließen, ist gerade mal eine Handvoll nicht-türkischer Kollegen gefolgt.

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