Wissen und Technik

Zwischen Geborgenheit und Gewalt

0

Rituale schweißen Menschen zusammen und schließen Fremde aus. Sie versprechen Kontinuität und sind doch nicht starr. Forscher untersuchen, wie und warum Rituale entstehen.

Lichterglanz. Wiederkehrende Rituale wie das Anzünden der Kerzen zu Weihnachten geben nicht nur Kindern Halt.

Für Ina Hüsing beginnt Weihnachten am Tag vor Heiligabend, kurz bevor sie zu ihrer Familie fährt. Die junge Frau sitzt am Lagerfeuer der Märchenhütte im Berliner Monbijoupark und erzählt. Von ihrem eigenen Fest, an dem sie morgens Weihnachtslieder hört und Plätzchen backt, nachmittags die letzten Geschenke kauft und abends bei Gebäck und Glühwein den Film „Schöne Bescherung“ guckt. Nur so sei sie für ihre liebenswerte, etwas verrückte Familie gewappnet. Der Weihnachtswahnsinn mit all seinen Ritualen kann beginnen.

Ritual, das Wort klingt für manche, als sei es aus der Zeit gefallen. Als die Ethnologie ein junges Fach war, beschrieben Forscher mit diesem Begriff vor allem religiöse Praktiken und Bräuche fremder Völker. So galten Rituale lange als exotisch, als wundersame Kulte fremder Südseevölker. Durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Bild; bedrohlich wirkten Rituale nach den Massenmärschen im Gleichschritt. Der schlechte Ruf blieb während der 68er Bewegung bestehen. „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ war die Antwort der Studenten auf Konventionen. Erneuerung und Kreativität könne es nur geben, wenn das Alte aufgebrochen werde. Erst allmählich entdeckt die Wissenschaft die positiven Seiten von Ritualen. Wer sie versteht, könnte sogar die Welt verbessern, meint Harvey Whitehouse.

Der Anthropologe von der Universität Oxford leitet das bislang größte und vielfältigste Forschungsprojekt zu dem Thema. 15 Universitäten aus aller Welt tragen mit Feldstudien, Befragungen, psychologischen Experimenten, archäologischen Ausgrabungen und Datenbankanalysen dazu bei. Rituale sind der „Leim, der Menschen zusammenhält“, sagt er. Sie ermöglichen es unserer Spezies, in einem Ausmaß zu kooperieren, das in der Natur sehr selten ist. Doch Rituale haben zwei Gesichter. Einerseits entwickelten sich so Gesellschaften, die trotz ihrer Größe ein Wir-Gefühl schaffen. Andererseits schließen Rituale den Fremden aus und befeuern Kriege. Whitehouse und seine Kollegen interessiert, wie das Kaleidoskop menschlicher Rituale im Laufe der Jahrtausende entstand, wie sich Kinder Rituale aneignen und warum sie jeden Aspekt des Lebens durchziehen.

Aus versprengten Rebellen wird eine Gemeinschaft

Trotz aller Vielfalt lassen sich Rituale in zwei Varianten unterteilen, sagt Whitehouse. Die eine sei typisch für kleine Soldatentruppen, Sekten oder Terrorzellen. Sie würden brutale Aufnahmerituale bis hin zur Folter einsetzen, um neuen Mitgliedern ihre Würde und Identität zu nehmen, damit sie sich nur noch über die Gruppe definieren und zu großen Opfern bereit sind. Solche Initiationsriten erzeugen einen emotionalen Ausnahmezustand, der kraftvolle Bilder ins biografische Gedächtnis einbrennt. Whitehouse nennt diese Variante „imagistisch“ (bildhaft). Die andere, die Alltagsversion, ist auf Wiederholung angewiesen, etwa gemeinsame Gebete oder Hymnen. Dafür beanspruchen solche Rituale Allgemeingültigkeit, sie sind „doktrinär“. Sie können große Gruppen verbinden und eine ganze Nation oder eine Religion aufbauen.

Wie Rituale aus versprengten Rebellen organisierte Gemeinschaften machen, beobachtete einer seiner Doktoranden in Libyen, als der Bürgerkrieg wütete. Sieben Monate begleitete der Kanadier Brian McQuinn im Jahr 2011 die Rebellen, interviewte 300 Kämpfer aus 21 Gruppen. So entstand an vorderster Front eine Feldstudie. „Anfangs zählten die Zellen der Aufständischen jeweils drei bis fünf Mann – so viele, wie in ein Auto passen“, berichtet er. Dann fuhren die Kämpfer abends nicht mehr zu ihren Familien, sondern lebten mit 25 bis 40 Kameraden in leer stehenden Gebäuden. Auf den Straßen litten sie unter Todesangst, fühlten sich füreinander verantwortlich. McQuinn sah, wie sie sich gegenseitig Mut machten, indem sie im Chor Racheschwüre schrien. Das bestätige seine These, meint Whitehouse. Furchtbare Erlebnisse schweißen kleine Gruppen zusammen, egal ob es libysche Rebellen, Mitglieder amerikanischer Studentenverbindungen oder Vietnam-Veteranen sind.

Nachdem sie die Truppen des Machthabers Muammar al Gaddafi aus Misrata vertrieben hatten, entstanden immer größere Brigaden. Sie bauten bürokratische Strukturen und Hierarchien auf. Aus charismatischen Führern wurden Machthaber, die aufgrund ihres Rangs oder Dienstgrades respektiert wurden. „Dabei veränderten sich die Rituale“, sagt McQuinn. „Zur Erinnerung an gefallene Kameraden wurden Bilder von ihnen anfangs auf Handys gespeichert. Später wurde dieser Kult formalisiert, es gab Gedenkwände mit Fotos von jedem Toten.“ Zudem bekräftigten die Mitglieder einer Gruppe immer wieder ihre spezifischen Werte und Vorschriften, sangen und beteten gemeinsam. Manchmal brachten ihnen Imame sogar die islamischen Prinzipien bei, nach denen sie Gefangene behandeln sollten. „Sie entwickelten eine Ideologie“, erklärt McQuinn.

Rituale beeinflussten die soziale Evolution des Menschen

So geht es seit der Steinzeit, sagt Whitehouse. Komplexe Gemeinschaften konnten sich immer dann bilden, wenn doktrinäre Riten ihnen den Weg ebneten. Eine Datenbank soll ihm dabei helfen, diese These mithilfe unzähliger Beispiele aus der Geschichtsschreibung zu belegen. Hinweise darauf fanden er und seine Kollegen auch anhand archäologischer Ausgrabungen in Çatalhöyük, einer Siedlung in der heutigen Türkei. Gegründet vor 9500 Jahren.

Die ältesten Funde erzählten von sehr emotionalen Riten. Die Menschen beerdigten ihre Toten unter den Häusern, manchmal trennten sie den Kopf ab. Wandmalereien erinnerten daran, wie Jäger gemeinsam Stiere malträtierten und aßen. Nach dem Festmahl hängten sie Tierschädel und Hörner im Haus auf, die Knochen vergruben sie zeremoniell. Doch mit der Zeit verschwanden diese archaischen Zeugnisse. Die Gemeinschaft wuchs und wuchs, die Männer streiften nicht mehr umher, sondern hüteten Rinder und Ziegen als Nutztiere. Sie mussten jeden Morgen gefüttert werden. „Mit dem sesshaften Leben entstanden immer mehr Rituale, die sich oft wiederholten“, sagt Whitehouse. Die Archäologen fanden nun bemalte Keramik und Siegel, beides Zeichen für doktrinäre Rituale. Aus den Jägern und Sammlern wurden Bauern. Dieser Wandel in der Jungsteinzeit zeigt, wie Rituale die soziale Evolution des Menschen beeinflussen.

Whitehouse will die Macht des Rituals nicht nur erforschen. Die Politik soll die Ergebnisse zur Konfliktlösung nutzen, etwa um Terrorgruppen zu stoppen. „Wer solche Gruppen mit Gewehrkugeln und Bomben attackiert, stärkt ihren Zusammenhalt“, sagt er. Stattdessen sollte man herausfinden, wie die Anführer ihre Anhänger ködern und gehorsam machen. Dann könnte man ihnen diese Mittel nehmen. „Wenn wir verstehen, wie der soziale Kitt funktioniert, können wir vielleicht friedfertige soziale Systeme schaffen.“ Und die Menschen dazu bringen, Gutes zu tun.

Mehr als sinnentleerte Überbleibsel der Vergangenheit

Dass Rituale nur Überkommenes zementieren, völlig starr und stereotyp, widerlegte auch ein Sonderforschungsbereich der Universität Heidelberg. Nach zwölf Jahren Arbeit war klar: Sie sind dynamisch, eine treibende Kraft gesellschaftlicher Veränderungen. „Gerade die Erlebnisgesellschaft entdeckt Rituale wieder, erfindet sie neu oder importiert sie aus fremden Kulturen“, sagt der Indologe Axel Michaels und Sprecher des Projekts. Talare beim Uni-Abschluss sind wieder in Mode. Der Junggesellenabschied ersetzt den Polterabend, es gibt Scheidungspartys, bei denen der Ehering in einen Mini-Sarg gelegt wird, und auf der Torte der Schriftzug „frisch geschieden“ steht. „Wir feiern Weihnachten und Ostern, obwohl wir nicht an einen Gott glauben“, sagt Michaels.

Rituale sind mehr als sinnentleerte Überbleibsel der Vergangenheit. Sie bieten Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Die politischen Konflikte in den Nachrichten klingen verworren, die eigene Biografie ist kaum planbar. Jahresverträge, Wohnortwechsel, Scheidung – das Gefühl anzukommen rückt in die Ferne. „Die Gesellschaft differenziert sich, der Stress nimmt zu. Da können Rituale helfen“, sagt der Anthropologe Christoph Wulf von der Freien Universität Berlin. Weil sie das Leben strukturieren und Emotionen beherrschbar machen. Weil sie Sicherheit vermitteln.

Moralische Konzepte wie Treue, Verlässlichkeit, Verantwortung kann kein Mensch unmittelbar mit seinen Sinnen wahrnehmen. Rituale machen sie sinnlich erfassbar und in einer Gemeinschaft teilbar. Sie machen Abstraktes real.

Verbundenheit und Vertrauen

Rituale des Alltags leben von der Wiederholung. Kein Kind paukt, wie ein Ritual abzulaufen hat. Die Körperbewegungen eines Tanzes oder eines Gebets, einen Gesang oder andere Handlungen lernt es ähnlich wie Fahrradfahren und speichert es im Gedächtnis für Fertigkeiten. So wird das Ritual zum Automatismus, über den man nicht nachdenkt und für den das Gehirn wenig Energie verbraucht, sagt die Heidelberger Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer. Zu den Gehirnregionen, die dabei aktiv sind, gehören die Basalganglien. Diese Strukturen unterhalb der Großhirnrinde regulieren unter anderem die Motorik und das motorische Gedächtnis. Eine Funktionsstörung kann rituelle Handlungen wie den höflichen Händedruck erschweren.

Festlich. Im Herbst ehren Hindus die Göttin Durga. Zu den mehrtägigen Feiern gehören auch Geschenke.

Normalerweise prägen sich Rituale leicht ein. Zum einen sind sie fast immer mit Emotionen besetzt. Kaum etwas gräbt sich so ins Gehirn ein wie ein schmerzhaftes oder ein schönes Erlebnis. Ein Gutenachtkuss erinnert an behütete Kindertage, die im biografischen Gedächtnis verankert sind, der Tatort am Sonntag bedeutet Entspannung vor dem Montagmorgen. Zum anderen gehören zu vielen gemeinsamen Ritualen Musik und Tanz. „Durch synchronisierte körperliche Bewegungen fühlen wir uns einander nah und schütten Glückshormone aus“, sagt Monyer. In solchen Momenten wird das limbische System angeregt, die Gehirnregionen, die für Gefühle zuständig sind. Sie verbinden die Erinnerung mit positiven Gefühlen wie Verbundenheit und Vertrauen.

Doch diese Erinnerungen sind nicht starr. Jedes Mal, wenn wir sie hervorholen, treten sie in eine labile Phase ein, in der sie erneut abgespeichert werden. In dieser Zeit der Rekonsolidierung, die nur wenige Minuten währt, können sie durch neue Sinnesreize einen anderen Kontext bekommen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in den Nervennetzwerken immer wieder neu verknüpft. Das macht auch Rituale wandelbar.

Kein Schimpanse würde offensichtlich sinnloses Tun nachahmen

Dass Sonntagsmesse und Tischgebet in der westlichen Gesellschaft ihren Wert verlieren, heißt nicht, dass die Rituale schwächeln. Für die Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler von der Freien Universität Berlin ist es sowieso ein „Irrglaube, dass Rituale nur einen religiösen Bezug haben und in einer rationalen, entzauberten Gesellschaft nicht mehr nötig sind.“ Rituale markierten zum Beispiel den Schritt in eine neue Lebenssituation. Von der Universität in die Arbeitswelt, vom Single-Dasein in die Ehe, vom Leben in den Tod. Mit ihrer Dramaturgie geben sie diesen Übergängen einen vertrauten Rahmen, eine Anleitung zum richtigen Verhalten. Und weil sie den Augenblick mit Handlungen wie dem Austausch der Eheringe überhöhen, machen sie ihn unvergesslich. Diese Überhöhung unterscheide menschliche Rituale vom rituell anmutenden Verhalten bei Tieren.

Whitehouse nennt eine weitere Ungleichheit. Kein Schimpanse, der etwas auf sich hält, würde offensichtlich nutzlose Handlungen kopieren. Vier- bis sechsjährige Menschenkinder dagegen ahmen sinnloses Tun besonders präzise nach. Schritt für Schritt. „Kinder sind Konformisten“, sagt Whitehouse. Sie wollen unbedingt dazugehören.

Familienrituale stärken nicht nur den Zusammenhalt untereinander. Misst die Familie ihnen eine große Bedeutung zu, können sie auch die Gesundheit der Kinder fördern, schreibt Barbara Fiese von der Universität von Illinois. Kinder mit Asthma in Familien mit solchen Bräuchen litten weniger oft an Ängsten, die für diese Erkrankung typisch sind. Sie machten sich weniger Sorgen und hatten sogar weniger körperliche Symptome.

„Ohne Rituale wüsste ich manchmal gar nicht, wohin mit mir“, sagt Ina Hüsing – und schaut sich in einer der beiden Holzhütten im Monbijoupark die Geschichte vom Aschenputtel an. So wie jedes Jahr.

Hunderte Opfergaben geben Aufschluss über Tiwanaku-Kultur

Previous article

Parkinson: Frühe Anzeichen der Krankheit erkennen

Next article

You may also like

Comments

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert