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Tödliche Diagnosen

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Die Atteste Hans Aspergers waren für viele autistische Kinder in der Nazi-Zeit Todesurteile. Später stellte er sich als NS-Gegner dar.

In ihrem Buch “Aspergers Kinder” schildert die Historikerin Edith Sheffer die Verstrickung des Wiener Arztes Hans Asperger in die…

Wie viele Menschen heute an einer psychischen Störung des „Autismus-Spektrums“ leiden, kann niemand genau sagen. Da es nach wie vor keine eindeutige Definition des Krankheitsbildes gibt, schwanken die Schätzungen zwischen 0,1 und 1 Prozent der Bevölkerung. Die ursprünglich im 19. Jahrhundert an den Insassen von Gefängnissen und Heimen entwickelte Diagnose „Autismus“ erweiterte der österreichische Arzt Hans Asperger, seit 1931 an der Kinderklinik der Universität Wien, zum Krankheitsbild der „autistischen Psychopathie“ weiter. Es ist bis heute als „Asperger-Syndrom“ für bestimmte Subtypen von Autismus bekannt.

Belastend für die Volksgemeinschaft

Das Ziel des Heilpädagogen Asperger bestand darin zu verhindern, dass Psychopathen „durch ihre dissozialen und kriminellen Taten die Volksgemeinschaft belasten.“ So sprach er 1938, kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs. Während er in früheren Jahren noch betont hatte, dass man die autistischen Kinder sorgfältig untersuchen müsse, um die Spreu vom Weizen zu trennen, passte sich der Arzt nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich an die Sprache der neuen Machthaber an. Und machte Karriere.

Körperlich und geistig Behinderte konnten dem Menschenbild und der Rassenideologie der Nazis nicht genügen. 70 000 Menschen wurden als „lebensunwert“ im Rahmen der Aktion T4 ermordet. Das gleiche Schicksal konnte aber auch seelisch Behinderten widerfahren, wenn sie sich als nicht gemeinschaftsfähig erwiesen. Hier kam Asperger ins Spiel. Eigentlich war er Heilpädagoge, aber in Hunderten von Fällen attestierte er Kindern ihre Unheilbarkeit und überwies sie an die Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“. Dort nahm sich das Referat „Ausmerzende Maßnahmen“ ihrer an, zugehörig der Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ des Wiener Gesundheitsamtes, und entschied über Leben und Tod. Ein „Diagnoseregime“, das „den Tod als Behandlungsoption beinhaltete“, nennt die amerikanische Historikerin Edith Sheffer, selbst Mutter eines autistischen Kindes, das NS-Regime. In ihrem Buch „Aspergers Kinder“ schildert sie anhand einiger ausgewählter Einzelfälle sehr eindringlich die schrecklichen Schicksale der Kinder, die Asperger ausgeliefert waren, und führt dem Leser so plastisch vor Augen, wie das perfide System der Kinderverwahranstalten funktionierte.

Hunderte Kinder ermordet

Mindestens 789 Kinder wurden in der Anstalt Am Spiegelgrund ermordet. Solange sie noch am Leben waren, wurden sie grausam misshandelt, gefoltert und für medizinische Experimente missbraucht. Nach ihrem Tod wurden ihnen Gehirne und Rückenmarksstränge entnommen und für Forschungszwecke aufbewahrt. Auch die pädagogischen Maßnahmen, denen die Kinder ausgesetzt waren, die nicht getötet werden sollten, bestanden aus Demütigungen, Essensentzug, Schlägen, Elektroschocks und schreckliche Schmerzen verursachenden Injektionen. Die sadistische Phantasie der leitenden Ärzte kannte damals kaum Grenzen. Die meisten der Mediziner, die für dieses Regiment des Schreckens verantwortlich waren, konnten ihre Karrieren nach 1945 fortsetzen. Dies gilt insbesondere für Heinrich Gross, der die Gehirnsammlung zum Ausgangspunkt seiner Nachkriegskarriere machte. Für den brutalen Mörder wurde ein Ludwig Boltzmann-Instituts zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems eingerichtet und lange Jahre war er der führende österreichische Gerichtspsychiater.

Auch Asperger hatte nach 1945 keine Probleme. Er hatte zwar im nationalsozialistischen Wien akademische und staatliche Führungspositionen innegehabt und war durch die Überweisung zahlloser Kinder an den Spiegelgrund zum Mittäter bei der Durchführung des Euthanasieprogramms geworden. Aber der NSDAP war er nie beigetreten. Das war von Vorteil, um sich als verkappter Regimegegner darzustellen. Außerdem betonte er seine Verwurzelung im katholischen Glauben, was Distanz zum kirchenfeindlichen NS-Regime suggerieren sollte.

Diagnose: Interpretationssache

Gleichzeitig beurteilte er jetzt die Kinder, denen er eine autistische Psychopathie attestierte, wieder viel wohlwollender. Er hob nach wie vor auf ihre mangelnde Gemeinschaftsfähigkeit hervor, attestierte ihnen aber oft auch eine partielle Hochbegabung trotz „eingeschränkter kommunikativer Fähigkeiten“. So gelang es Asperger, seine Rolle in der NS-Zeit zu verklären. Lange galt er gar als Mediziner, der vielen Kinder durch seine Diagnosen das Leben gerettet hatte. Das mag in Einzelfällen tatsächlich so gewesen sein. Ungleich schwerer wiegt aber die große Zahl von Fällen, in denen er Kinder durch Überweisung dem Tod überantwortet hat, und seine Mitwirkung bei der Etablierung eines Ausleseprinzips, das dazu führte, dass Kinder aufgrund ihrer Gemütskrankheiten nicht weiterleben durften.

Nach Aspergers Tod 1980 etablierte sich für die „autistische Psychopathie“ der Begriff „Asperger-Syndrom“, der bis heute sehr gebräuchlich ist – obwohl er als medizinische Diagnose nicht mehr existiert, seit die intensiven Forschungen des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech die tiefe Verstrickung Aspergers in die Verbrechen der nationalsozialistischen Euthanasie offenlegten. Heute spricht man in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, die die WHO herausgibt, von Autismus-Spektrum-Störungen, zwischen denen die Übergänge fließend sind. Einzelne Subtypen, etwa das „Asperger-Syndrom“ werden nicht mehr unterschieden.

Während das Leben für Täter wie Asperger und Gross nach der Befreiung Wiens im April 1945 schadlos weiterging, war das Martyrium der Kinder längst nicht zu Ende. Das gesamte Personal der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“, zu der der Spiegelgrund gehörte, wurde übernommen.

Immer wieder misshandelt

Besonders erschütternd ist der Fall eines jungen Mädchens, den Sheffer schildert. Das Mädchen war jüdischer Abstammung und wurde wohl deshalb immer wieder so schwer misshandelt, dass es wiederholt in die Klinik überwiesen werden musste, um dort wieder gesundgepflegt zu werden.

Edith Sheffer hat eine verdienstvolle Studie vorgelegt, in der sie anschaulich schildert, welchen furchtbaren Konsequenzen die nationalsozialistische Ideologie für wehrlose Kinder haben konnte. Die Arbeit ist nicht ganz frei von historiografischen (und übersetzerischen) Fehlern, aber das schmälert ihren Verdienst kaum. Sheffer kann, und das ist schon bedeutsam genug, für sich in Anspruch nehmen, die dunkle Seite von Aspergers Tätigkeit endlich ans Licht der Öffentlichkeit gebracht zu haben – ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung über die nationalsozialistische Euthanasie.

Edith Sheffer: Aspergers Kinder – Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“; Frankfurt/Main 2018, Campus Verlag, 356 Seiten, € 29,95

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