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JWD-Magazin: Die Geschichte von einem, der auf der Trabrennbahn nie gewinnt

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Trabrennen sind Zeitreisen: Zurück in ein Früher, als das Leben einfach war. Mal gewinnt der und mal gewinnt die. Aber einer, einer gewinnt nie. Genau den hat unser Reporter begleitet. 

Auf Platz #1 ist der Mann (Hay) einmal getrabt. Aber nicht mit Pferd #1 (Bibi)

Diese Reportage aus dem Magazin JWD wurde am 3. Dezember 2018 mit dem Reporterpreis in der Kategorie “Beste Sportreportage” ausgezeichnet. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir sie an dieser Stelle erneut.

Es gibt Wahnsinnsgeschichten. Geschichten, bei denen ein vom Leben stetig Verprügelter noch mal aufsteht, sich stemmt gegen all die finsteren Mächte, gegen alle Widrigkeiten, gegen sich selbst und das, was man wohl sein Schicksal nennen muss, und am Ende obsiegt. Geschichten, die verwundert auf ihre eigenen Wendungen blicken, auf das ungeplant Passierende, was aber aus einer normalen Recherche eine unnormale Begleitung machen kann, eine glückliche Wette, an deren Ende man mit Staunen feststellt: Ich war dabei, als sich dieser Mensch, der von unten kam und unten hätte bleiben sollen, nach oben gekämpft hat. 

Erfolgsquote zwei Prozent

Nun, dies ist keine dieser Geschichten. 

Joachim Hay steht vor dem Stall und raucht seine Hoffnung auf Lunge. Selbst gedreht, mit Filter. Blickt in einen leeren Himmel. Fette, gnadenlose Sonne. Bei so einer Hitze gehen die Menschen ins Freibad, nicht zum Trab. Aber auch gut. Wenn Hay sich blamiert, braucht er kein Publikum, das lacht. Noch drei Stunden. Er könnte allen zeigen, wie falsch sie in ihrem Urteil über ihn und Bibi gelegen haben. Aber Hay weiß selbst nicht, ob er daran glauben soll. Er drückt die Zigarette tot und blättert im Heft, das alle Starter vorstellt. Starkes Feld, brummt Hay, ein Maisonntag, Trabrennbahn Bahrenfeld, Hamburger Westen. Im Heft die Spalte: Joachim Hay, vier Starts dieses Jahr, kein Sieg, 49 Starts gesamt, ein Sieg. Erfolgsquote zwei Prozent. Kein männlicher Fahrer im Starterfeld hat weniger. Er schüttelt den Kopf, wirft das Heft in den Staub. Weiß er alles, nächste Zigarette, weiß aber auch, dass es knapp war, manchmal.

 

Hay lag in Gelsenkirchen vorn, dachte, er könne gar nicht mehr verlieren, da, die Linie, endlich, endlich, dachte er, noch zehn Meter, ein Hengst schloss auf, Bibi sprang ihm weg, disqualifiziert. In Berlin winkte die Jury sie nach 50 Metern raus. 300 Kilometer hin, 300 zurück, 50 Meter Rennen. Drei Fehler in vier Starts dieses Jahr. Hoffnung, was ist denn schon Hoffnung? Hoffnung ist, wenn dein Herz den Kopf belügt. Wenn eins plus eins drei ergibt. Hoffnung ist groß. Hoffnung ist doch scheiße. Hoffnung ist das Einzige, was Hay hat. 

Trab wird mein Grab

Joachim Hay, Hamburger Junge, ist Dachdecker, jeden Tag, bei Sonne, bei Regen, auf die Schindel. Trab, sagt Hay, ist mein Hobby. Trab, sagt er, wird mein Grab. Er steht am Stall, ein Enddreißiger, sehniger Körper, Greifvogelgesicht, rasierter Kopf, die Maloche hat den Rücken gerundet, der Trab auch. Warum tut so einer sich das an, das Verlieren, das Anreisen, die Kosten, die Häme? Einfache Antwort: Weil einer nicht aufhören kann, hat einer ja oft überlegt, aber wie denn und was dann? Schwierige Antwort: Weil einer hofft, siehe Hoffnung, dass es doch noch mal besser wird, er besser wird, sein Pferd besser wird. Weil einer, der nur verliert, zum Giganten wird, wenn er doch mal gewinnen sollte. Weil ein Sieg von ihm größer wäre als hundert Siege der anderen.

Über das einzige Rennen, das er mal gewonnen hat, redet Hay nicht. War auf einem anderen Pferd, einerseits, der erste Platz, andererseits, erinnert ihn an alle Male, die er nicht Erster wurde, sondern Siebter, Achter oder disqualifiziert. Sein einziger Sieg ist kein Ansporn, er ist eine Last. Ein Irrtum, den sich Hay nicht mehr erklären kann. 

Früher war das ein verdammtes Eldorado hier

Und Bibi hört man wiehern. Sie steht im Stall hinten rechts, fernab der anderen, kein Hengst in der Nähe. Bibi von Haithabu, sieglose Stute, mag keine Hengste oder mag sie zu sehr, wird jedenfalls nervös, wirft den Kopf, den Fokus weg. Die Box heute ist die erste Voraussetzung für ein Wunder. 

Über seine Niederlagen kann Hay lachen, aber es ist ein düsteres Lachen. Ein Husten. Darüber, dass der Trab geworden ist, was er geworden ist, und er deshalb nichts mehr wird in diesem Trab. Früher waren die Ränge voll, und gewettet wurde, mein Gott, früher war das ein verdammtes Eldorado hier. Die Menschen warfen mit Geld um sich, gab doch genug, musste raus, damit es reinkommt, und die Tribüne platzte, 80.000 Leute, Rausch, Spektakel. Früher war Trab- noch Volkssport, viele hielten sich Pferde, und viele traten an. Heute sind Leute wie Hay, die sich einen Traber zum Hobby halten, selten. Die überlebenden Rennbahnen wollen namhafte Fahrer, ein Mindestpreisgeld ist ihre Startvoraussetzung, die solide Ausschüttung das Lockmittel. Wer schon ins Geld gefahren ist, kriegt noch mehr Geld. Amateure wie Hay kommen zu kurz, also gar nicht ins Rennen, und sind sie doch mal dabei, dann ohne Chance. Denn die anderen fahren Edeltraber, fantastisches Blut, Siegerlinien, für hohe Summen erstanden. Die Züchter verkaufen an erfahrene Trainer, starke Fahrer, an die, die sie kennen, Erstzugriffsrecht für Fohlen inklusive. Fahrer wie Hay kriegen Pferde wie Bibi.

 

Ich kann mir kein Tier für 100.000 Euro leisten, ich muss Bibi nehmen, wie sie ist, und wie sie ist, weiß man nie vorher, kann so oder so sein, knurrt er. Klar, man kann auch Glück haben. Züchtung funktioniert über Geschick, Können, Wahrscheinlichkeit, Fürsorge, und auch über Glück, die Natur hat noch nicht auf industrielle Fertigung umgestellt. Aber Hay hatte noch nie Glück. 

Trabrennen: Auf perfideste Weise zwischen den Zeiten hängengeblieben

Er geht einen Filterkaffee im Container zapfen und damit also zum ersten Mal heute unter Leute, hinein in diese Traberwelt, von der er gesagt hat, dass er sie liebt, aber von der angenommen werden muss, dass sie ihn nicht in gleichem Maße zurückliebt. 

Mit Eldorado hat das nicht mehr viel gemein, mit moderner Gegenwart aber noch weniger. Man ist auf perfideste Weise zwischen den Zeiten hängengeblieben. Ästhetisch konservierte Spätachtziger, minus Andrang, plus Smartphone. Trab war immer der Pferdesport der kleinen Leute, während die Bonzen, Pfeffersäcke und Alsterreichen einmal im Jahr ihren Porsche zum Galoppderby ausfuhren, um kaviarkauend über Aktien, Yachten und Botox zu diskutieren. Galopper sind Wertanlagen, die Traber stammen von Bierkutsch- und Schlittenpferden ab. 

Bier, Wurst und Platzwette, die heilige Dreifaltigkeit des Trabens

Im Oval, durch das Hay pflügt: ganz viel Lederblouson, viel Schnurrbart, der hier aber Schnobbi heißt, Kämme in den Arschtaschen und die Frauen mit Strass am Top und Stress im Gesicht, weil das Holsten auf die Kunstnägel schäumt. Bier, Wurst und Platzwette, die heilige Dreifaltigkeit des Trabens. Selbst die Fahrer dürfen bis 0,2 Promille haben, was besser als nichts ist, aber weniger als einst, da fielen Starter auch mal besoffen vom Sulky. ­Männer in ihren schlechtesten Jahren, aber bestens gelaunt, feine Kerle, Augenringe bis ans Kinn. Als Konsensgemütstier aller der Dackel, also nach dem Pferd, versteht sich. 

Spürbar auch der stoische Fatalismus, mit dem die Übriggebliebenen herpilgern, im Wissen, dass diese Bahn, ihre Bahn, untergehen muss, wohl 2020, wenn die Stadt Wohnungen auf das Oval baut. Ähnlich darin den Touristen, die zum Great Barrier Reef fliegen, nur dass es da wohl ein bisschen bunter zugeht. Auf der Trabrennbahn ist alles vor allem beige, bisweilen lederfarben. Manche Häute zum Beispiel, aber eben nicht aus solarium­affiner Eitelkeit, sondern weil hier eine Generation in der Sonne steht, die noch nie daran geglaubt hat, dass der UV-Schutz hilft. Was garantiert hilft: Rothhändle, mit Zitterfingern geascht in den Topf der Yucca, die im Wettcontainer verwelkt, obwohl sie aus Plastik ist. Falls man es bis hierher schafft, durch das anekdotische Dickicht, das die Stehtische umwuchert. Alter, weißte noch. Das war ein Pferd. Ich sach dir jetzt mal was. Noch ein Kleines? Mach mal zwei Große. Viel Prost, wenig Mahlzeit und nur Vornamen. Der Erwin, der Martin, die Rita, die Gitti. Und natürlich der Joachim, der Hay, der den Gesprächen lauscht, ohne mitzureden. 

Ruuuudi, König der Traber

Alle stellen sie plötzlich das Plaudern ein, als ein Mann vorbeitrabt, um seinen Hengst Hector di Quattro aufzuwärmen: Rudolf Haller, Legende zu Lebzeiten. Republikweit Rudi gerufen, also Ruuuudi, und wenn man ihn ruft, bayert Ruuuudi zurück, was Deftiges, Kluges, irgendeinen Klassesatz, den man sich einrahmen will, weil Haller ist ein Trabstar, 11.183 Rennen, 2098 Siege, Ruuuudi, König der Traber, der Sulky sein Thron.

 

Und Joachim Hay hat sich im Trubel um den König weggeschlichen, zurück zum Stall. Will Hay den Haller irgendwann schlagen, was undenkbar erscheint, muss er mit Bibi eine Zeit um 1:16 Minute traben, sind sich die Experten einig. Im Trab ist die Kilometerzeit der Leistungsmaßstab, der Durchschnitt für 1000 Meter. Als der Sport entstand, erst in den Staaten und danach in Europa, lag sie bei 2:06 Minuten, exakt gemessen 1806. Heute traben die besten Pferde den Kilometer in einer Minute und zehn Sekunden, sie sind knapp 50 km/h schnell, nicht viel weniger als die Galopper, die bis 65 km/h schaffen. Aber Bibi und Hay eine 1:16? Die Taschenkammkibitze im Clubheim müssen doch recht herzlich lachen, als man diese Ungeheuerlichkeit zur Debatte stellt. Es sei ja nicht nur Kentucky Bo, das Pferd vom Hallerrudi, dem sie heute entlaufen müssten. Da sei auch Arendelle, die von Christoph Pellander angetrieben wird, dem üppig gegelten NDR-Moderator, der sich schon Amateurmeister nennen durfte. Rekordhalter Andreas Schwarz auf Sansibar Diamant, ehedem irrsinnige 200 Siege in einem Kalenderjahr. Die jungen Matzky-Zwillingsschwestern, die ehrgeizigsten Talente der Branche. Und, nicht zu vergessen, Sarah Kube auf Navy Blue! Nein, man ist sich einig: Hay und Bibi ohne Chance. 

Es riecht nach Staub, Fußschweiß, Kölnischwasser

Joachim Hay sitzt, neue Zigarette, im Fahrerraum am Stallende, der Backstagebereich des Trab, aber einer, den Groupies nicht für Geld betreten würden. Es riecht nach Staub, Fußschweiß, Kölnischwasser. Er hat den Sulky verschraubt. Andere Starter sind mit Team angereist, mit Trainer, Masseur, Arzt, Assistentinnen, andere lassen machen. Hay macht alles selbst. Einzelgänger, Wortsparer. Selbst wer ihm näherkommt, kommt ihm nicht nah. Er starrt in die winzige Röhre, über die das erste Rennen flimmert. “Fahren die langärmlig?”, fragt er den Fernseher, aber der Fernseher antwortet nicht. Hay wählt kurze Ärmel, keine Jacke. Am Bizeps spannt ein Tribal. Mit seiner weißen Schutzhose und dem blau-roten Shirt sieht er aus wie Evel Knievel, der Stuntmanheld aus Amerika. Nur dass Hays ewiger Stunt das Hinterherfahren ist. Er bricht sich nichts, aber vielleicht bricht es ihn, irgendwann. Hay seufzt sich aus dem Plastikstuhl hoch, was hilft Trübsal jetzt, er muss die Proberunde fahren, hopp, Bibi, brummt er, am Zaum ins Licht. 

Ist keine Sucht, ist eine Seuche

Bibi von Haithabu ist nicht Hays erstes Pferd, er hatte davor andere. Haben auch nicht funktioniert. Die eine war zu alt, der andere zu launisch, der danach hatte Talent, aber dann leider auch Arthrose. Hay kauft, fährt, verstößt. Liebe auf Raten, in jeder Hinsicht. Das Dachdeckergehalt, nur damit, wie soll das gehen? Er müsste mal richtig fett absahnen. Ist keine Sucht, ist eine Seuche, sagt er. 

Hay wohnt nicht weit vom Oval, Osdorf, Brennpunktviertel. Jede Fahrt auf die Weide als Erholung. Hay will dem Alltag davonfahren, aber womöglich ist Bibi auch dafür zu langsam? Dabei pulsiert in ihrer Linie gutes Blut. Hedda von Haithabu, die Mutterstute, lief stark, Kjeld von Haithabu hält den Saisonrekord der Dreijährigen, Orkan von Haithabu, jüngster Verwandter, wird ein Irrsinnshengst, glauben alle. Vielleicht kein Greyhound, nein, aber bitte, einen zweiten Greyhound wird es sowieso nicht geben! Greyhound, Schnellster der Schnellen, Schimmelwallach aus Kentucky, 1932 ins Stroh geboren, stellte 40 Weltrekorde auf, gewann die größten Rennen, trabte alle Konkurrenten in Grund und Boden.

 

Hay hat bei der Aufwärmrunde sogar ins Publikum gewinkt. Bibi läuft glatt, rund, ruhig, doch, orakelt er, heute geht was. Habe es im Gefühl. Stunde noch. Halbe Stunde noch. Viertelstunde noch. Zigarette, Zigarette, Zigarette. Hay bindet Bibi im Stall an, links und rechts, strafft ihre Zügel, zäumt noch ein Loch enger, prüft die Kniebandagen, die Hufe, kein Wort, kein Wiehern. 

Das Mitleid trieft aus den Boxen

Vom Oval her der Kommentator, der das Feld vorstellt, über Hay erst ganz am Ende: “Und nicht zu vergessen, Bibi von Haithabu, tja, da wollen wir einfach mal hoffen, dass heute ein bisschen Glück mit reinspielt für die beiden.” Das Mitleid trieft aus den Boxen. Hay kneift seine Augen zusammen. Glück? Noch zwei Minuten. 

Noch zwei Minuten auch für die Wetter, die sich jetzt wild an den Tresen drängeln, Scheine bekritzeln oder, wenn sie falsch gekreuzt haben, dem Personal ihren Tipp zuschreien. 

Fünf Euro auf Arendelle! 

Sansibar mit acht Euro in den Plätzen! 

Bo auf die Eins, Navy auf die Zwei, Zehner, mach schon! Schnell! Schneller! 

Von den Monitoren flimmern die im Sekundentakt umschlagenden Quoten herab, kristallisieren sich Favoriten heraus. Niemand setzt auf Hay. Seine Quote ist bei 999:10 eingefroren, eigentlich beträgt sie sogar 1032:10, wird der Wettboss später erklären. Vierstellig können sie nicht mehr anzeigen. Hays Chancen sind schlechter, als es die Tafel erlaubt. 9616,59 Euro werden bis zum Start auf Rennen vier gewettet, aber kein einziger verdammter Euro auf Hay. Was auch bedeutet, dass er sich selbst reich machen könnte: Ein Fahrer darf auf den eigenen Sieg wetten, das ist ihm erlaubt. Für zehn Euro Einsatz gäbe es bei Sieg Bibi exakt 1032 Euro Auszahlung. Aber nicht mal Joachim Hay setzt auf Joachim Hay. 

Und dann beginnt der Sirtaki, dröhnt aus den Lautsprechern der Bahn. 

Die Pferde in Reihe hinter den ausgeklappten Planken des Startwagens, wochenlange Vorbereitung, auf 2200 Meter zusammengeschnurrt. Hay innen links, das Gesicht eine Maske. Aus dem Gras in der Stadionmitte steigt ein Falke auf, als habe selbst er Angst, ein Wunder zu verpassen. Der Wagen beschleunigt weg vom Feld, klappt die Planken ein, das Rennen ist frei. Bibi läuft gut mit, bockt nicht, muss nicht durchpariert werden. Steinmehl spritzt. Erste Disqualifikation, Bibi ist es nicht. Das Feld streckt sich wie ein langer Tropfen, der vom Hahn hängt. Bibi fällt zurück, kämpft, gestreckter Hals, geblähte Nüstern. Jetzt muss sie kommen, wann sonst, verdammte Hölle? Hay drischt die Peitsche. Bibis Flanke dampft. Letzte Kurve. Schaum am Maul. Der Moderator schreit wie ein orgiastischer Opus-Dei-Priester, schreit Namen, die gar nicht nach Haithabu klingen. Auf der Zielgeraden halten Hunderte ihre Wettzettel ins Licht, erigierte Arme der Verzweiflung. Vorn trudeln die Ersten ein, hinten bricht Bibi aus, aber weil der Ausgang deutlich ist, macht sich die Jury nicht mal die Mühe, sie zu disqualifizieren. Joachim Hay, der ein Wunder gebraucht hätte, wird Zwölfter von Zwölfen.

Er schwitzt, aber vielleicht weint er auch einfach nur aus der Stirn

Sie traben durch bis zum Stall. Kriegen Tröstendes zugerufen. Der letzte Aufrechte. Der aufrechte Letzte. Hay steigt aus dem Sulky. Er schwitzt, aber vielleicht weint er auch einfach nur aus der Stirn, damit es keiner mitbekommt. Hay, der wenig sagt, sagt: tja, Scheiße.

Bibi wird gewaschen, gekämmt, gesalbt. Vom Vormittagsoptimismus ist nichts geblieben, nicht mal ein Streicheln. Ich konnte nicht weg, hebt Hay an, am Start vom Auto ausgebremst, und dann hingen wir fest, da war, er spuckt aus, gar nichts, keine Lücke, vielleicht hätte ich mehr Gas geben müssen, vielleicht wäre sie galoppiert, ich weiß nicht, er schluckt, die waren zu schnell. Vielleicht sollte ich das alles sein lassen. Vielleicht sollte ich aufhören. Er verstummt. 

Drüben, an der Haupttribüne entlang, paradiert Franz Klein auf Pepper K. L., der strahlende Sieger. Die instinktsicheren Wetter lassen sich auszahlen, umschwirrt von rumänischen Bettelkindern, die ein paar Cent vom Gewinn wollen. Der Moderator überreicht im Halbrund des Winner’s Circle absolut ernst einem Besucher, der irgendetwas richtig geschätzt hat, eine Balkongeranie im Tontopf. Aber all das kriegt Hay schon nicht mehr mit. Er ist verschwunden und taucht erst vier Wochen später wieder auf. 

Auf einer grünen Koppel in Alveslohe, hoch im Norden, links der A7. Flach ist das Land hier, groß die Liebe der Menschen zu ihrem Tier. Joachim Hay steht an einem Zaun und pfeift und lacht. Hier, bei Trainerroutinier und Gutsbesitzer Manfred Walter, stellt er seine Pferde unter, seit jeher. Weiter unten, hinter den Gattern und Ställen, hat Walter eine Bahn aus Sand und Gras aufgeschüttet, da können seine Fahrer trainieren. Walter, ein kumpeliger Turbo­redner, gleicht Hays Schweigen aus. Vielleicht passt es deshalb ganz gut mit den beiden. Der Joachim, sagt Walter jetzt, hat die Bibi zu oft beschlagen, mal das Eisen, dann das Eisen, das funktioniert nicht. Das ist, wie wenn ich tausend Paar Schuhe kaufe, aber ich kann am Ende doch nur eins tragen, verstehste? 

Neues Pferd, neues Glück?

Hay sitzt neben dem Trainer, er wirkt abwesend. Starrt auf die Weide, zu seinem Pferd. Seiner Bibi. Bibi sieht anders aus heute. Ist schmaler geworden, auch muskulöser. Ruhiger, der Blick ganz fest. Und ihre Mähne glänzt im Abendlicht – aschefarben? Das ist nicht Bibi von Haithabu. Das ist Erik, sagt Hay da, mit einem gigantischen Grinsen. Mein Neuer. Ein Jahr noch, sagt er, dann ist der Erik bereit. 
Er hat Bibi bei seiner Freundin in Dinklage in Pflege gegeben, vielleicht kriegt die sie ja hin. Es klingt nicht, als würde ihn das noch groß was angehen. Aber der Erik, sagt Hay noch mal, das wird einer. Ganz bestimmt. Guckt. Grinst. Joachim Hay ist ein bisschen verliebt. Joachim Hay hört ganz bestimmt nicht auf. Neues Pferd, neues Glück. Glück? Hoffnung.

Diese Geschichte stammt aus der fünften Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.

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