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Handball-WM: Andreas Wolff steht im deutschen Tor – Er will Weltmeister werden

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Als Kind nahm Andreas Wolff Ritalin, um seine Unruhe zu bändigen. Heute steht er wegen seiner Gelassenheit im Tor des Handball-Nationalteams. Und ist Deutschlands große Hoffnung für die WM. Am Abend ist Island zu Beginn der Hauptrunde der nächste Prüfstein.

Knapp zwei Meter groß und 110 Kilo schwer – dennoch ist Andreas Wolff gelenkig wie eine Ballerina

Du kannst ein Held werden, wenn du dieses Duell gewinnst: Torwart gegen Schütze. Wenn du den Ball abwehrst, der wie eine Kanonenkugel auf dich zuschießt, 120 Stundenkilometer schnell und präzise abgefeuert. Wenn du einen solchen Ball hältst, womöglich den letzten und entscheidenden in einem Finale, dann bist du eine Legende, überlebensgroß und unsterblich. Jedenfalls im Handball.

Andreas Wolff, der Torhüter des deutschen Nationalteams, hat im Lauf fast seiner gesamten Karriere auf so einen Moment warten müssen. Und weil der einfach nicht kam in seinem Verein HSG Wetzlar, einer Mittelklassemannschaft ohne Chancen auf einen Titel, jazzte Wolff jedes gewöhnliche Bundesligaspiel zu seinem persönlichen WM-Finale hoch. Er wollte jeden Ball halten, jeden. Das klappte natürlich nie, kein Handballspiel endet zu null, und trotzdem war Wolff oftmals schon nach fünf Minuten so fertig mit den Nerven, dass er ausgewechselt werden musste.

Seltenes Eigenlob

Inzwischen läuft die Handball-Weltmeisterschaft. Im Tor steht Andreas Wolff, einer der besten Schlussmänner der Welt, und niemand in der Halle wird ahnen, welche Kräfte da noch immer in ihm arbeiten: dieser überbordende Ehrgeiz, sein Perfektionismus, der ihn zu Höchstleistungen treiben kann – und an manchen Tagen in die Verzweiflung.

Wolff hat sich mittlerweile ein Pokerface antrainiert, aus dem seine Gefühlslage nur schwer zu lesen ist. Der Mann mit dem Vollbart, 27 Jahre alt, knapp zwei Meter groß und 110 Kilo schwer, wirkt wie ein Bär im Tor. Kaum zu glauben, dass Wolff als Kind Ritalin nahm, um seine Unruhe zu bändigen. Man muss schon sehr nah am Spielfeldrand sitzen, um die vielen leisen Flüche und Verwünschungen zu hören und das seltene Eigenlob.

Wie macht Wolff das, diesen inneren Vulkan so zu zügeln, dass die Ausbrüche nicht die ganze Mannschaft erfassen? Wie schafft er es, nicht zu verkrampfen, obwohl jedes Gegentor an ihm nagt?

Das Spiel seines Lebens: Im EM-Finale 2016 gegen Spanien wehrt Wolff fast die Hälfte aller Würfe ab und sichert den Deutschen den Sieg

Ein grauer Dezembertag, wenige Wochen vor Beginn der WM. Andreas Wolff kommt ins Café Fiedler in Kiel. Obwohl er in einer Stunde zum Training muss, bestellt er sich ein großes Stück Marzipan-Nuss-Torte und einen Kakao.

“Passt schon”, sagt er, “wird gleich alles wieder ausgeschwitzt.”

Seit zwei Jahren spielt Wolff für den THW Kiel, den mit Abstand erfolgreichsten deutschen Klub der vergangenen zwei Jahrzehnte. Nach einer schwierigen ersten Saison ist er zu einem Rückhalt seiner Mannschaft gereift.

Verzweifelte Gegner

“Hier in Kiel bin ich gezwungen worden, etwas cooler zu werden”, sagt Wolff. “Wir haben manchmal drei Spiele in einer Woche. Auch wenn’s mir manchmal schwerfällt: Ich kann nicht bei jedem Spiel alle Höhen und Tiefen voll mitgehen wie früher. Es würde mich plattmachen bei unserem Terminkalender.”

Sich zurückzunehmen, nicht jeden geglückten Wurf des Gegners als persönliches Versagen zu begreifen, das hat Wolff von José Javier Hombrados gelernt. In Wetzlar war der ehemalige spanische Nationalkeeper die Nummer zwei hinter Wolff – und ein ganz anderer Torwarttyp.

Wer Hombrados spielen sah, den sie in Wetzlar “Jota” nannten, konnte denken, der habe wenig Lust an seinem Job. Da loderte kein Feuer, da stand ein Kerl mit Halbglatze und schlabbrigem Trikot zwischen den Pfosten und ließ das Spiel auf sich zukommen. Erst im letzten Bruchteil der Sekunde, in dem der Schütze den Ball aufs Tor schleuderte, zuckte Hombrados – und wehrte den Wurf oftmals ab.

Ein Held, der hält: Nach der Schlusssirene wird Wolff von den Mitspielern für seine Weltklasseleistung im EM-Endspiel gefeiert

Die Gegner verzweifelten reihenweise an ihm. Hombrados war einfach nicht zu deuten. Seine Mimik, seine Körpersprache: wie ein leeres Blatt Papier.

Ganz anders Wolff. Ein Hüne, gestählt in unzähligen Stunden im Kraftraum. Ein lauter Torwart, der die Angreifer einschüchtern wollte durch seine Präsenz.

“Es war ein längerer Weg, den ich mit Jota gegangen bin”, erzählt Wolff. “Ich wollte ja mein Spiel nicht komplett ändern. Ich wollte meine Explosivität behalten und gleichzeitig lockerer werden. Man darf sich ja nicht verbeißen als Torwart. Dann verliert man das Gefühl fürs Spiel, dann verlässt man sich immer weniger auf seine Instinkte. Und das ist tödlich für die Leistung.”

Hilfe vom väterlichen Freund

Wolff und der 19 Jahre ältere Hombrados wurden Freunde. Was auch dadurch begünstigt wurde, dass Hombrados keine Anstalten machte, Wolff als Stammtorwart zu verdrängen. Jasmin Camdzic, der das Duo damals in Wetzlar trainierte, sagt: “Jota war ein väterlicher Ratgeber. Andreas hat ziemlich schnell Vertrauen gefasst zu ihm, weil er spürte: Jota will mich nicht kleinmachen, er will mir wirklich helfen.”

Noch heute telefonieren Wolff und Hombrados vor wichtigen Spielen. Es geht dabei selten um rein Fachliches, also nicht um die Stärken und Schwächen des nächsten Gegners. Meistens reden sie über die Atmosphäre, die Wolff in der Halle erwarten wird. Über Wege, diese Stimmung für sich zu nutzen, sich tragen zu lassen vom Jubel und Pfiffe auszublenden.

Auch vor seinem bislang größten Spiel sprach Wolff mit Hombrados. Es war das Finale der Europameisterschaft 2016, Deutschland gegen Spanien. Wolff und seine Mannschaft waren die klaren Außenseiter in Polen, eine junge Truppe gegen eine Auswahl von Weltklassespielern.

“Jota hatte mir gesagt: Genieß das Spiel einfach. Denk nicht an den Titel, sondern saug Stimmung in der Halle auf. Sieh das Finale als Belohnung, als Ritterschlag – und nicht als riesige Herausforderung”, erzählt Wolff.

In der Tauron Arena von Krakau machte Wolff dann das Spiel seines Lebens. Von 33 Würfen wehrte er 16 ab; schon ab einer Quote von 40 Prozent gilt ein Handballtorwart als überragend. Insgesamt kassierte Wolff nur 17 Tore, so wenig wie noch kein Schlussmann zuvor in der Geschichte der EM-Endspiele.

Gesicht des deutschen Teams

Die internationale Presse hob Wolff hernach in den Himmel. Die französische Sportzeitung “L’Equipe” schrieb: “Wolff war der beste Torhüter der EM. Er ist das Gesicht des deutschen Teams.” Das spanische Blatt “Superdeporte” nannte Wolff ehrfurchtsvoll “bestia negra”, die schwarze Bestie.

Wolffs Weg schien nach dem grandiosen EM-Titelgewinn vorgezeichnet. Viele Fachleute nahmen an, Wolff würde bei seinem neuen Klub THW Kiel gleich durchmarschieren und Niklas Landin, die Nummer eins, verdrängen.

Das ist Wolff bis heute nicht gelungen. Der Däne Landin und er teilen sich den Job im Kieler Tor. Bei großen Spielen sitzt Wolff allerdings oftmals auf der Bank. THW-Trainer Alfred Gislason vertraut dem schlaksigen Landin mehr, obwohl Wolff in starker Form ist. So auch im Spitzenduell gegen die Rhein-Neckar Löwen, kurz vor Jahreswechsel: Wolff durfte nur wenige Sekunden aufs Feld – um einen Strafwurf zu halten.

Andreas Wolff braucht keine Feindbilder

Andreas Wolff hat daraus seine Konsequenzen gezogen. Im Sommer dieses Jahres wechselt er zu KS Kielce in Polen, einem europäischen Topklub. “In Kielce wird mir eine wichtigere Rolle zuteil”, sagt er, “die Spielzeiten gehen mehr dorthin, was sich ein Torhüter erträumt.”

Obwohl der 30 Jahre alte dänische Nationaltorhüter Niklas Landin sein größter Konkurrent beim THW Kiel ist, mag Wolff ihn. Bei Auswärtsreisen teilen sich die beiden ein Zimmer, sie geben sich gegenseitig Tipps und analysieren gemeinsam die Schützen des Gegners. Wolff braucht keine Feindbilder, an denen er sich abarbeiten kann; er will niemanden wegbeißen. Wolff schaut nur auf sich. Wenn jemand bessere Leistungen bringt als er, ist das für ihn bloß ein Anreiz, noch härter zu trainieren.

In der Nationalmannschaft ist Wolff gesetzt. Bundestrainer Christian Prokop lässt ihn von Beginn an spielen, wechselt gelegentlich aber auch Silvio Heinevetter ein, die Nummer zwei. Heinevetter, 34, der bei den Berliner Füchsen unter Vertrag steht, bringt dann eine ganz neue Farbe ins deutsche Torwartspiel: Er ist ein Zocker. Ein Zappelphilipp, ein Springteufel. Er macht seine Spielchen mit den gegnerischen Schützen, bietet ihnen freie Ecken im Tor an, um sie blitzschnell zu schließen. Er verbiegt seinen Körper in der Luft wie kein anderer Torwart auf der Welt.

Lange Liste mit Zielen

Und Heinevetter, Spitzname Heine, redet viel. Mit den Schiedsrichtern, mit den Schützen, mit seiner Abwehr. Das kann sehr anstrengend sein – auch für die eigene Mannschaft.

“Wir sind ein ungleiches Duo”, sagt Wolff, “aber das macht uns so stark. Wenn ich mal eine Schwächephase habe, weiß ich, dass da einer von der Bank kommt, der es völlig anders macht als ich. Heine ist für jeden Gegner schwer auszurechnen.”

Bei der Weltmeisterschaft, die noch bis zum 27. Januar dauert, wird es auf Wolff und Heinevetter ankommen. Das deutsche Team hat mit Knochenbrüchen und Bänderrissen zu kämpfen, wichtige Schützen fallen für das Turnier aus. Umso wichtiger wäre eine starke Abwehr, die schon beim EM-Titelgewinn 2016 das Prunkstück im deutschen Spiel war.

Andreas Wolff will von Verletzungsproblemen nichts wissen. “Andere Teams haben auch Sorgen”, sagt er, “wir haben das Zeug, Weltmeister zu werden. Und ich will diesen Titel unbedingt.”

Lehrmeister Hombrados

Schon als Nachwuchstorwart bei der HSG Wetzlar hatte Wolff eine Liste mit Zielen geschrieben. Einige lachten damals, als er sagte, er wolle Europameister, Weltmeister, Olympiasieger werden und natürlich auch die Champions League gewinnen.

Wolff ist jetzt 27 Jahre alt, kein ganz junger Torwart mehr, und doch hat er noch viel Zeit, seine Wunschliste abzuhaken. Zehn Jahre mindestens, vielleicht auch zwanzig. Sein Lehrmeister José Javier Hombrados jedenfalls spielt noch immer Handball. Er steht in der ersten spanischen Liga für Quabit BM Guadalajara im Tor. Mit 46 Jahren.

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