Politik

Gastkommentar von Michel Friedman zum Thema Vertrauen: Eine Krise ist keine Katastrophe

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Es scheint so, als ob ganz Deutschland im Krisenzustand ist. Finanzkrise, Demokratiekrise, Vertrauenskrise. Die Inflation der Verwendung dieses Wortes ist augenfällig. Noch augenfälliger ist, dass weder Lösungskonzepte aus der Krise mit- und mitformuliert werden, noch Krise als etwas Positives markiert wird.

„Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“, sagt Max Frisch. In der deutschen Debatte wird Krise genau umgekehrt erlebt. Sie ist anscheinend eine große Katastrophe, nicht nur als Beigeschmack, sondern als Hauptgeschmack. Und die Chance, produktiv damit umzugehen, wird nicht anerkannt. Da Existenz immer ein dynamischer und nie ein statischer Prozess ist – dies gilt sowohl individuell als auch kollektiv –, ist der Mensch ununterbrochen mit der Frage konfrontiert, nehme ich die Hausforderung, nehme ich den Konflikt, nehme ich die Ungewissheit der Zukunft an oder beharre auf meinem Istzustand, den es nicht mehr gibt.

Die digitale Revolution verändert menschliches Leben. Was wir heute unter Arbeit verstehen, wird es morgen noch dasselbe sein? Was wir heute unter Privates und Intimes verstehen, wird es morgen überhaupt noch lebbar sein, und wenn ja, wie? Was wir heute unter demokratischer Partizipation verstehen, wird es morgen überhaupt noch dieselbe Demokratie sein? Was wir heute unter menschlicher Autonomie verstehen, wird es morgen durch künstliche Intelligenz erschüttert?

UNSER GASTAUTOR

Unser Gastautor Michel Friedman ist Jurist, Politiker, Publizist und Fernsehmoderator. Er beschäftigt sich mit dem Thema Vertrauen und Vertrauenskrise. Und er sagt: Wir stehen immer wieder vor Veränderungen – es immer wieder besser zu machen, ist die Herausforderung

Gesellschaften können Veränderungsprozesse verarbeiten, indem sie sich entweder darüber beschweren, dass es diese gibt oder indem sie die Tatsache nicht mehr negieren und nach konstruktiv kreativen Lösungsansätzen Ausschau halten. Was macht die Jetztzeit so außerordentlich? Wir haben keine Matrix, wie wir mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz umgehen können, da sie selbst noch in ihren Anfängen steckt und es noch nicht einmal eine Generation gibt, die diesen Prozess erlebt hat. Die industrielle Revolution war die letzte, die die Menschheit vor eine solche Herausforderung gestellt hat. Wahrscheinlich wird sich die kulturelle Identität dadurch verändern. Die Frage, die sich stellt, ist: Trauen wir uns Menschen zu, solche Prozesse konstruktiv umzusetzen? Vertrauen wir oder misstrauen wir den Menschen, also auch uns selber?

Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, so ist trotz aller Ungerechtigkeiten, Kriege, Hungersnöte und Gewalttaten der Fortschritt und damit die Lebensqualität deutlich gestiegen. Wir beobachten, wie sich andere Teile der Welt verändern. Ob China oder Indien, spätestens jetzt lernen wir, dass die Arroganz, anderen nicht zuzutrauen, was wir selbst erreicht haben, falsch ist. Wir bemerken, dass wir teilweise zehn bis 20 Jahre den Entwicklungen hinterherhinken. Wir beobachten, dass sich andere sehr anstrengen und müssen uns fragen, ob wir uns genug angestrengt haben. Wir entdecken die Herausforderung, veränderte Lebenswelten mit unseren ethischen und moralischen Prinzipien zusammenzuführen. Spätestens jetzt entdecken wir aber, dass wir uns in der Vergangenheit nicht ausreichend mit diesen Prinzipien auseinandergesetzt haben. Was ist Demokratie? Was ist gut an der Demokratie? Was ist gerecht? Wer definiert, was gerecht ist? Sollen Grenzen grenzenloser oder geschlossener werden? Haben wir verlernt, was Krise ist?

Natürlich habe auch ich Angst vor dem Neuen. Auch ich weiß, dass ich eine Zwischengeneration repräsentiere. Es sind die heutigen Kinder, die die neue Welt bestimmen werden. Auch ich weiß, dass dies erst der Anfang ist. Aber auch ich weiß, dass es nicht der Anfang vom Ende sein wird. Es wird Rückschläge geben, wie immer. Es wird Fehler geben, wie immer. Und es wird leider Verlierer geben, wie immer. Dies nicht einfach hinzunehmen, sondern immer wieder zu korrigieren, besser zu machen, ist die Herausforderung. Ich erlebe dies nicht als Vertrauenskrise. Ich vertraue den Menschen. Sie auch?

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