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Braucht Klimaschutz die Kernkraft?

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Nun sag, wie hast Du’s mit der Atomenergie? Greta Thunberg hat die Frage neu aufgeworfen, ob Kernenergie nötig ist, um die Klimaziele zu erreichen. Sie spaltet.

Nachhalten. Das ganz große Windrad drehen oder doch weiter kleine Kerne spalten? Der Weltklimarat sieht in der Atomkraft eines der…

Radikaler Klimaschutz ist die Kernforderung der „Fridays for Future“-Bewegung. Doch woher soll in Zukunft der Strom kommen? Seit einem Facebook-Post von Greta Thunberg, die mit Verweis auf den Weltklimarat die Option Kernkraft aufzählte, ist die Diskussion darüber wieder in der Öffentlichkeit angelangt. Sie persönlich, stellte sie klar, sei eigentlich dagegen. So kristallisiert sich an der neuen Ikone der Klimaschutzbewegung die eigentlich einfache, aber schwer zu beantwortende Frage nach dem kleineren Übel. Zeit für einen Faktencheck.

Besser fürs Klima als Solarstrom?

Trotz aller Einsparungsbemühungen und Effizienzgewinne wird der Bedarf an Strom weiter steigen, etwa durch Elektromobilität und Wärmepumpentechnik, die Ölheizungen ersetzt. Von einem mit zunehmendem Wohlstand und dem – aufgrund des Klimawandels – insgesamt immer größer werdenden Markt für sehr stromfressende Klimaanlagen ganz zu schweigen.

Fachleute gehen – in einem klimafreundlichen Szenario – von einem rund anderthalbfach bis doppelt so hohen Strombedarf wie heute aus. Die wichtigsten drei Argumente derer, die neben den erneuerbaren Energiequellen auch auf die Kernenergie setzen wollen, lauten: Je Kilowattstunde ist der Kohlendioxidausstoß einschließlich aller Vorarbeiten von der Uranmine bis zum Kraftwerk ähnlich gering wie bei der Windkraft, beide liegen deutlich unter der Kohlendioxid-Bilanz von Fotovoltaik. Der Flächenverbrauch der Kernkraft ist um ein Vielfaches geringer als bei den Erneuerbaren. Die Kraftwerke liefern zu jeder Tages- und Nachtzeit Strom.

Die drei Hauptargumente auf der Contra-Seite: Atomkraftwerke produzieren radioaktiven Müll, für den es bisher kein geeignetes Endlager gibt. Bei Unfällen können große Mengen Radioaktivität austreten, die Gebiete unbewohnbar machen, das Krebsrisiko erhöhen oder unmittelbar zum Tod führen. Die zivile Nutzung der Kerntechnik kann die Entwicklung von Kernwaffen erleichtern.


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Im jüngsten Bericht des Weltklimarats IPCC zum 1,5-Grad-Ziel haben die Fachleute Szenarien kalkuliert, um zu ermitteln, wie bei sinkenden Treibhausgasemissionen der Energiebedarf trotzdem gedeckt werden kann. Demnach ist es grundsätzlich sinnvoll, die Effizienz zu erhöhen und die Sektoren Strom, Wärme und Verkehr besser zu koppeln. Bezogen auf die Stromerzeugung wäre es günstig, wenn künftig die Erneuerbaren den größten Anteil übernähmen, während insbesondere Kohle massiv zurückgefahren würde. In den meisten 1,5-Grad-Szenarien nimmt der Anteil von Kernenergie und fossilen Brennstoffen – allerdings mit anschließender Kohlendioxid-Verpressung im Untergrund (Carbon Capture and Storage, CCS) – zu. Zum Vergleich: 2018 lag der Anteil von Atomstrom weltweit bei zehn Prozent, Erneuerbare kamen auf 26 Prozent.

Der IPCC will seinen Bericht nicht als Empfehlung verstanden wissen

Sabine Fuss vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin hat an dem IPCC-Bericht mitgeschrieben. Sie sagt: „Wir geben keine Empfehlung, welcher Weg der beste ist, darüber haben die einzelnen Länder zu entscheiden.“ Ein rascher Ausstieg aus der Kernenergie mache das Erreichen ambitionierter Klimaziele zwar nicht unmöglich, aber teurer. „Jedoch können nur so die mit der Kernkraft einhergehenden Risiken vermieden werden.”

Für Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energien an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin und einer der führenden Köpfe des kürzlich formierten Bündnisses „Scientists4Future“, ist Kernenergie keine Option: „Der sehr geringe Klimanutzen der Kernenergie wird durch hohe Risiken erkauft“, erklärt er. Ein absolut sicherer Betrieb von Kernkraftwerken sei nicht möglich, die Frage der sicheren Endlagerung gar nicht geklärt. Und durch die Verknüpfung ziviler und militärischer Nutzungsoptionen der Kernenergie verschärfe der zivile Einsatz internationale Spannungen. Die Beispiele Nordkorea oder Iran zeigten dies.

Bezogen auf Deutschland ist sich Quaschning sicher, dass „wir in den nächsten 20 Jahren eine sichere und bezahlbare Energieversorgung ausschließlich auf Basis erneuerbarer Energien realisieren können.“ Gaskraftwerke seien als Absicherung nötig. Ihr Einsatz sollte aber so organisiert werden, dass der Erdgasverbrauch nicht zunimmt und der fossile Träger bald durch synthetisches Gas ersetzt wird, erzeugt mit nachhaltig produziertem Strom.

Dirk Uwe Sauer von der RWTH Aachen ist zurückhaltender: „Es ist unsinnig, Erneuerbare und Kernkraft zugleich auszubauen.“ Erstere lieferten unstet Strom, daher brauche es „Gegenkraftwerke“, die rasch reagieren und flexibel ihre Leistung anpassen können. „Gaskraftwerke können das technisch besser und die Investitionskosten sind geringer“, so Sauer, der auch Leiter der Initiative ESYS (Energiesysteme der Zukunft) von acatech, Leopoldina und der Akademienunion ist. Selbst wenn die Speichertechnik noch große Fortschritte mache, wäre ein „massiver Zubau an Gaskraftwerken“ nötig.

“Eine erneute Diskussion über den Atomausstieg würde die Energiewende gefährden”

Carsten Agert, Direktor des Oldenburger Instituts für Vernetzte Energiesysteme im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, stimmt zu: „Wir müssen davon ausgehen, dass es regelmäßig Dunkelflauten gibt, also einige Tage in Folge, an denen Wind und Sonne kaum verfügbar sind.“ Diese Lücke würden Stromspeicher allein kaum schließen. „Ich glaube, dass wir nicht um Großkraftwerke herumkommen.“ Auch Agert setzt hierfür auf Erdgas, das seiner Meinung nach später durch per Ökostrom produzierten Wasserstoff, der in Kavernenspeichern zwischengelagert würde, ersetzt werden soll. Kernkraftwerke eignen sich seiner Ansicht nach kaum für einen solch flexiblen Betrieb. Dieser sei technisch komplex, ökonomisch unattraktiv und mit Blick auf die Reaktorsicherheit risikobehaftet. Für Deutschland nennt er ein weiteres Argument: „Wir haben nach jahrzehntelangen Diskussionen die Entscheidung zum Atomausstieg getroffen – und dies auch gleich zweimal.“ Damit die Energiewende gelinge, bräuchten Investoren „einen stabilen und glaubwürdigen Fahrplan, und eine erneute Diskussion würde den Erfolg ernsthaft gefährden“.

Ein erheblicher Ausbau der Erneuerbaren ist in diesem Szenario unumgänglich. Das wiederum verändere das Landschaftsbild deutlich, wie ESYS-Leiter Sauer sagt. Ein Ansatz könne sein, die Bioenergiefelder – von vielen als „Maiswüsten“ bezeichnet – umzuwidmen: Würde man auf all diesen Flächen Fotovoltaikanlagen errichten, könne der gegenwärtige Strombedarf Deutschlands „zu 160 Prozent gedeckt werden“, rechnet er vor. „Wir müssten diskutieren, ob wir da lieber Monokulturen haben wollen oder eben Solaranlagen.“ Schwellenländern mit stark steigendem Bedarf rät Sauer, auf Erneuerbare zu setzen. Die klimatischen Voraussetzungen seien oft besser als hier, und die ökonomischen Zusammenhänge seien dieselben: Der teure Neubau von Kernkraftwerken rechne sich als Teil solcher Pläne gar nicht, weil sie nicht im Dauerbetrieb laufen würden, sondern nur als Lückenfüller – und so weniger Geld verdienen könnten. Für bestehende Kraftwerke hingegen seien die laufenden Kosten gering, da lohne sich der Weiterbetrieb durchaus.

Genau das werde auch angestrebt, berichtet der Karlsruher Physiker Eberhard Umbach, der bis Herbst 2018 führend an ESYS beteiligt war. In Frankreich etwa wolle die Politik den Anteil der Kernenergie reduzieren. „Da stellt sich die Frage, wodurch sie ersetzt werden soll?“ Das sei „nicht trivial und spart auch kein CO2 ein“. Er schätzt – nach Gesprächen mit anderen Fachleuten –, dass die etwas flexibler steuerbaren Kernkraftanlagen dort länger laufen werden, was für ihn nachvollziehbar sei, sofern die Sicherheit gewährleistet wäre. Die Menge an Atommüll, die dadurch zusätzlich entstehen würde, sei überschaubar. „In jedem Fall müssen wir bald eine Lösung finden.“ Ob es Endlager sind oder Verfahren zur Entschärfung – Transmutation genannt –, sei noch offen.

Zu den prominenten Kernkraftbefürwortern gehört Bill Gates

Umbach hält im Ausland im Klimaschutzkontext den Neubau von Kernkraftwerken für vertretbar, wenn drei Grundvoraussetzungen gegeben seien: Sicherheit, Kosten und Akzeptanz in der Bevölkerung. „Erneuerbare sind nicht so günstig, wie es oft kolportiert wird“, sagt er. „Bezieht man die Speicher, neuen Leitungen und die komplexe Regelungstechnik mit ein, ist der Unterschied zur Kernenergie nicht mehr so groß.“

Pro-Kernkraft-Aktivisten wie Michael Shellenberger, Gründer der NGO „Environmental Progress“, argumentieren zu den Kosten anders. „Wenn Kernkraft so teuer ist und Erneuerbare so billig, warum ist dann die Elektrizität in Frankreich viel billiger und sauberer als in Deutschland?“, schreibt Shellenberger dem Tagesspiegel auf Anfrage. Die Strommärkte seien nicht „frei“. Die Regierungen würden vielmehr massiv eingreifen und die Öl-, Gas- und Erneuerbaren-Branche begünstigen.

Tatsächlich gibt es im Ausland neben Anti-Akw-Initiativen auch prominente Kernkraftverfechter. Bill Gates gehört dazu, zudem etliche Forscher, die mit den Vorteilen für Klima und Biodiversität argumentieren.

Sie alle jedoch bedächten „zu wenig die Ängste in der Bevölkerung, die auch dazu führen, dass die Sicherheitsanforderungen und damit die Preise steigen“, sagt wiederum Umbach. Doch der Strombedarf steige. „Ich denke, dass etliche Länder überlegen, Kernkraftwerke länger zu betreiben oder neue zu bauen.“ Wenn die genannten drei Voraussetzungen erfüllt seien, sei das durchaus „eine Option“.

Eine klare Antwort auf die von der schwedischen Aktivistin und anderen wieder aufgeworfene Frage gibt es also nicht. Es ist wie beim Phänomen Thunberg insgesamt: Die 16-Jährige hat wieder für mehr Bewusstsein – und mehr Emotionen – beim Thema Klimawandel gesorgt. Doch die Suche nach einer sozialen, ökonomischen und sauberen Lösung des Problems hat wohl gerade erst begonnen.

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